Samstag, 31. März 2007

Tod durch Web 2.0

Die Tasten klackern, der Bildschirm flimmert, die Bits und Bytes rasen mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten durch Kupfer und Glasfaser, wenige Millimeter dick. Die Augen haben schon lange kein Tageslicht mehr gesehen, die Luft riecht nach Pizzaresten, Kola und einem Körper, der seine letzte Dusche vor viel zu langer Zeit erfahren hatte.
Der Raum wird nur vom flackernden Licht von google.com, heise.de, wikipedia.org, youtube.com, wow-forum.com, pando.com, altavista.am, myspace.com, ebay.de, yelp.com, usenext.de, giovanies-pizza.de, onlinetvrecorder.com, geek.com, amazon.com, german-bash.org, overclockers.com, knuddels.de, www.swingers-live.de, torrent.to, secondlife.com, last.fm, shutterfly.com, stumbleupon.com, technorati.com und Soaps, Richtershows, B-Movies, Softpornos und Gewinnspielen des kleinen Fernsehers beleuchtet, während sein Ton mit dem des alten Radios in der Küche verschmilzt und sich zum Hintergrundrauschen der Lüfter gesellt.
Zwischen Monitor und Tastatur, Maus, Kopfhörern, Webcam, Lautsprechern, Gamepad, diversen Netzteilen und Ladegeräten, USB-Hub, Kartenleser, Headset und den 3 externen Festplatten liegen Zettel mit Notizen und Ausdrucke, der alte Personalausweis, eine halb volle Tüte Chips, die c't von vor 3 Monaten, der Brief von der Uni, die Liste der letzen Lanparty 2004. Hier steht auch der Teller mit Krümeln eines nicht mehr identifizierbaren Essens und ein halb volles Glas Kola. Ein weiters, volles steht daneben, während die umgekippte Kaffeetasse auf dem Boden liegt, zum Glück weit genug von den beiden bis auf den letzen Platz gefüllten 12-fach Steckerleisten entfernt. Irgendwo auf dem Tisch liegt auch das Handy, zumindest eines der 3. Die anderen beiden sind in der schmutzen Hose, die schon seit 4 Wochen auf dem Wäschehaufen liegt, und auf dem Küchentisch, unter der leeren Mikrowellenpommespackung.
An den Wänden hängen CDs, selbst gebrannte und aussortierte, vor 4 Jahren aufgehängt. Als es noch ein Leben außerhalb gab, als man sich noch für die Umgebung jenseits des Bildschirms interessierte. Ungefähr zu dieser Zeit wurde der Boden auch das letzte mal gesaugt, der Teppich passt sich glücklicher Weise mit seiner hellgrauen Farbe dem Staub an, doch der Staub auf dem Staubsauger hat bereits eine beachtliche Höhe erreicht. Viel ist vom Teppich sowieso nicht zu sehen, verkrustete Teller, Kleidungsstücke, Gläser und Tassen, Besteck, Zettel, alte CDs und DVDs sowie das alte Mainboard und andere Teile, die im PC im Laufe der letzten Jahre ihren Platz für neuere räumen mussten, bedecken fast den gesamten Boden, und lassen nur noch einen schmalen Trampelpfad zwischen Schreibtisch, Bett und Türe frei.
Auf dem Haustürschlüssel hat sich bereits leichter Rost gebildet, seit im August 2005 die wenigen Klamotten mit der Post zur Reinigung gehen. Das sind auch die einzigen Menschen, für die sich diese Tür noch öffnet. Post, DHL, DPD, GLS, FedEx, UPS, Hermes und natürlich den Lieferanten von Giovanies Pizza.
Und die erschrecken immer mehr, wenn die Türe langsam und quietschend aufschwingt. Die Augen rot und blutunterlaufen, die Haut aschfahl und kreidebleich, der ganze Körper besteht nur noch aus spitzen Knochen, von einer dünnen, blassen Schicht überzogen. Die Haare mal lang, mal kurz, aber immer mit der Schere am Spiegel verstümmelt, dass sie nicht stören und ins Gesicht fallen, die Zähne gelb und ungepflegt, dass jeder Besucher froh ist, wenn der Mund verschlossen bleibt. Lediglich der Bart ist einigermaßen ordentlich rasiert. Die Fingernägel sind abgekaut und gelb, die Zehnägel wuchern, und liegen nach dem seltenen Schneiden ebenfalls um den Schreibtisch verstreut, bis auch sie irgendwann zu staub zerfallen.
Alle nicht mehr benötigten Körperfunktionen beginnen langsam aber sicher, ihren Dienst einzustellen. So bemerken Nase und Zunge schon lägst keinen Unterschied zwischen der Gemüse Satt Sonnen Tomaten Suppe, der Suppenliebe Instant chinesische Nudelsuppe, der 5 Minuten Terrine Chili Con Carne, der Asia Terrine Thai Chicken, dem Kaiserschmarrn, den Hackbällchen oder dem Bohneneintopf, die alle im Netz bestellt per Post eintrudeln. Und selbst Giovanies großartige Pizza Calzone wird immer mehr zu einem einfachen Nahrungsbrei, der nur noch dazu da ist, am Leben zu halten, um die Finger über die Tasten bewegen zu können, zu zocken, zu posten, zu surfen, zu chatten.
Doch die, trotz der schockierenden Ungepflegtheit, auffallendste Veränderung ist die Haltung. Nicht mehr stolz und aufrecht, mit den Beinen auf dem Boden der Tatsachen und mit dem Kopf dem Himmel entgegen, sondern gebückt, zusammengekauert, mit krummen Beinen und geknicktem Oberkörper, Arme, Beine und Kopf bewegen sich gemeinsam auf den Mittelpunkt der Existenz zu, auf die Tasten und den Bildschirm. Der Körper rollt sich zusammen, wird zum Punkt im .com, als müsste er sich klein machen, um selbst durch die Telephonleitung zu passen.
Das Rückgrat ist gebrochen.
Tod durch Web 2.0

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